Rufen Sie uns an 0721 669801-11 oder schicken Sie uns eine E-Mail info@praxis-drstienen.de
Die moderne Neurorehabilitation besitzt eine spannende Entstehungsgeschichte. Heute lesen Sie den vierten und letzten Teil.
Besondere Leistungen in der Neurorehabilitation von Schädel-Hirn-Verletzten wurden – bisher weitgehend unbeachtet – im Zweiten Weltkrieg erzielt. Im Geiste eines der beteiligten Neurologen – ein „Vater“ deutscher Nachkriegsneurologie, Klaus J. Zülch, – begann ich meine berufliche Ausbildung in Köln-Merheim. Sein leitender Oberarzt war mein erster Chefarzt, Jon N. Petrovici. Er beeindruckte mich durch seine akribische Fähigkeit nach einer klinischen Untersuchung den anatomischen Ort meist genai lokalisieren zu können und in Visiten, wenn er rasch und mit wenigen Strichen eine anatomische Stelle der Störung im Hirnstamm skizzierte.
Wie es bereits in den 1930er-Jahren diskutiert wurde ist Neuroplastizität “die” neurowissenschaftliche Grundlage der Neurorehabilitation, bisher leider ungenügend beachtet. Darunter ist die erstaunliche, ja phantastische Fähigkeit des Gehirns und des gesamten Nervensystems sich entsprechend den konkreten Erfordernissen in der Umwelt bzw. Lebenswelt durch Lernen und Veränderung anzupassen, zu adaptieren, und das auch strukturell, also durch Veränderungen der Synapsen (Nerv-Nerv-Schaltstelle), der Nervenzell-Nervenzellverbindungen und auch durch die BIldung und Einbinung neuer Nervenzellen (genannt: adulte Neurogenese) in etablierte Netzwerke. Dies ist in jedem Lebensalter möglich! Ja wirklich! Wie so oft ignorierte – und bekämpfte – die etablierte Wissenschaft diese bemerkenswerte Veränderbarkeit des Gehirn lange Zeit über. Bereits in den 1960er-Jahren wurde am Tiermodell die Zunahme der Dicke der Hirnrinde bei motorischem Training beschrieben. Michael Merzenich, ein Wegbereiter, berichtet hiervon eindrücklich. Seine bahnbrechende erste Arbeit war Beleg der Veränderung des Handareals in der Hirnrinde nach Durchtrennen der Handgelenknerven. Die sensoroschen Informationen wurden nachweislich in der Hirnrinde mm entfernten Regionen zugeleitet. Dies wollte das Establishment zunächst nicht glauben.
In diesem Zusammenhang ist natürlich der Nobelpreisträger Eric Kandel zu nennen: In seinem Lebenserinnerungen berichtet er bewundernswert über seine langjährige hürdenreiche Forschungsarbeit für den Nachweis der Gedächtnisbildung als Folge des Lernens durch Veränderungen der Nervenverbindungen, der Synapsen. Es war mir eine ganz besondere Ehre ihn einmal getroffen zu haben.
Vilayanur Subramanian Ramachandran beeindruckte mich mit der klinischen Anwendung auch neuer neurowissenschaftlichen Erkenntnisse (deswegen wird er als “Marco-Polo der Neuroscience” bezeichnet) und den hierauf basierenden Erklärungen teils „abstrus” anmutender Symptome, so z. B. das Capgras-Syndrom, eine Verbindungsstörung vom „Was“-Sehzentrum (Gyrus fusiformis) zum emotionalen Erkennen (Amygdala). Hier beklagte ein Mann, der sich bei Ramachandran vorstellte, dass eine Frau, die aussehe wie seine Mutter, ihm nur vorgaukeln wolle, diese zu sein. Als er vom benachbarten Zimmer aus mit ihr telefonierte, erkannte er sie jedoch sofort. Ähnliches erlebte ich in meiner klinischen Arbeit das eine oder andere Mal, und nicht selten empfanden sich die betroffenen Patienten jahrelang psychiatrisch oder psychosomatisch “abgestempelt” und leider unsachgemäß behandelt. Die immer neuen Kenntnisse der funktionellen Neurowissenschaften sind für mich das maßgebliche Fundament, um die Störungsbilder meiner Patienten zu begreifen und erklären zu können.