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EXTRA-Meldung: Die USA haben als erste Nation das Medikament Aducanumab gegen die Alzheimer-Krankheit zugelassen. Ein historischer Entscheid oder unverständlich? Neues für die Neurologie, Neues für Karlsruhe!
Am 7. Juni wurde Aducanumab (Aduhelm) in den USA durch die FDA (Food and Drug Administration) als erstes spezifisches Alzheimer-Medikament zugelassen. Dies wird damit begründet, dass das Medikament das bei der Alzheimer-Krankheit im Gehirn toxisch angereicherte Beta-Amyloid wirksam mindern konnte. Diese Begründung der FDA-Zulassung ist ungewöhnlich und überrascht, da dies nicht primäres Ziel der Zulassungsstudien war, sondern nur ein sogenannter „Surrogat-Marker“, der per se keine „guten“ Daten ergeben kann. Im Magazin Nature heißt es, dass die Forschergemeinschaft „verblüfft“ sei, und das Magazin Science kommentiert: „Zulassung trotz Zweifel an Wirksamkeit“. Die Zulassung ist jedoch an die Auflage gebunden, weitere Daten zu sammeln, um den Vorteil der Therapie zu bestätigen (Phase IV-Studie). Dies wäre jedoch ein neuer Milliardenaufwand und würde mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Das primäre Studienziel, eine Besserung der Hirnleistungsstörungen, wurde nämlich in beiden Zulassungsstudien verfehlt. Es konnte nur eine Studie ein triviales Bremsen der Verschlechterung, gleichwohl „statistisch signifikant“, aber klinisch irrelevant, nachweisen. Deswegen war die Zulassung von einem unabhängigen Beratungsgremium bei der Anhörung der FDA im Dezember 2020 und auch von der American Geriatrics Society nicht empfohlen worden, sondern es wurde zu weiteren Studien geraten. Diesem einmütigen Rat der neutralen Fachleute ist die FDA nun nicht gefolgt. Ebenso überraschend ist, dass keinerlei Einschränkungen in der Anwendung an die Zulassung gebunden wurden. Indikation ist einzig „Alzheimer´s Disease“, was ebenfalls weit über die vorhandene Studienlage hinausgeht. Die Zulassung bewirkte ein geteiltes Echo, von manchen enthusiastisch als „historisch“ und als „großer Fortschritt“ bejubelt, von anderen mit Skepsis und Hinweisen auf die Unsicherheiten der Datenlage bedacht. Es bleibt nämlich unklar, bei welchen Patienten dieses Medikament mit Aussicht auf Besserung tatsächlich angewendet werden sollte. Erfahrene Kliniker vermuten, dass allenfalls im asymptomatischen Frühstadium, jedoch nicht in der Spätphase, wenn das Gehirn bereits deutlich geschrumpft ist, der Einsatz hilfreich sein könnte. Aber auch dies sind Einzelmeinungen, die von der Datenlage nicht gestützt werden. Es wird, so einige Kommentare, die Verantwortung auf die Ärzte abgewälzt, die sich jetzt mit einer Flut von Anfragen konfrontiert sehen werden. Die Firma Biogen gab die Jahresbehandlungskosten mit US$ 56.000 pro Jahr an. Dies ist weit mehr als angenommen und deutlich höher als die Kosten-Nutzen-Analyse des Institute for Clinical and Economic Review von US$ 2.500 bis 8.000; deswegen sprechen manche von finanzieller „Toxicity“ (Giftigkeit) nicht nur für Patienten, sondern für das US-Gesundheitssystem. Man darf gespannt sein, wie die europäische Zulassungsbehörde (EMA) entscheiden wird.
Doch was waren die Unklarheiten der Studien? Bei Einschluss in die Studien wurde die Diagnose Alzheimer klinisch anhand Symptomatik gestellt (MMSE im Durchschnitt 26 Pkt., CDR-SB: 0,5). Inzwischen wissen wir, dass diese Diagnosekriterien weder gute Sensitivität noch gute Spezifität bedeuten; einfach gesprochen: Der Einschluss der Patienten beinhaltet somit eine hohe Rate an Falschdiagnosen. Inzwischen ist die Forschung erheblich weitergekommen. Wir kennen Biomarker, bisher weitgehend in der Forschung genutzt, die deutlich sensitiver und spezifischer sind und Alzheimer mit einer Genauigkeit von über 90 % feststellen können. Genau deswegen wurden im Jahr 2018 die Kriterien der Diagnosestellung der Alzheimer-Krankheit von der Symptomebene auf die Kriterien der Biomarkerwerte geändert. Maßgeblich sind der Nachweis von ß-Amyloid (Plaques) und p-Tau (Fibrillen), die entweder im Nervenwasser oder im Gehirn per PET nachzuweisen sind. Jetzt ganz neu: Forscher konnten im Blut ein Alzheimer-Biomarker-Profil feststellen (Genauigkeit 97 %), was eine Diagnosestellung erheblich vereinfachen wird.
In den beiden Zulassungsstudien wurden die Biomarker nur bei 3 % der Patienten im Nervenwasser und nur bei 30 % per PET erhoben. Forscher bewerten bereits dieses Design so, dass diesbezüglich limitierte Studiendaten allenfalls eine Basis sind, um testbare Hypothesen abzuleiten, nicht jedoch um etwas zu beweisen. Zudem ist wichtig anzumerken: nur ungefähr 50 % der anfänglich eingeschlossenen Studienteilnehmer standen letztlich in der Datenanalyse zur Verfügung. Eine „Drop-Out-Rate“ in dieser Höhe lässt jede Aussage einer darauf basierten Statistik berechtigt als ergebnisoptimierte Statistik bezeichnen. Des Weiteren ist irritierend: Im Verlauf der Behandlungen nach zwölf Wochen wurde das Behandlungsschema der Hochdosisgruppe verändert und die Dosis weiter erhöht (kumulative Dosis von 116 auf 153 mg/kg). Dies ist ein Verstoß gegen die „Intention-to-Treat-Regel“, die besagt, dass ein Abweichen vom Studiendesign ein „No-Go“ ist, denn damit war es keine „Randomisierte-kontrollierte-Blindstudie“ mehr und das Ergebnis laut ernsthafter Fachleute nicht mehr aussagekräftig. Insgesamt wurden 14 Therapieinfusionen über 78 Wochen gegeben. Auch wurden zwei Niedrigdosisgruppen (56 oder 98 mg/kg) in der Auswertung als eine Gruppe zusammengenommen berechnet, was keinen sicheren Schluss auf Dosis-Wirksamkeitszusammenhänge zulässt. Und genau dies ist erkennbar: In der Placebogruppe kam es zu einem Abfall von 3,3 Punkten im MMSE, in der Hochdosisgruppe zu einem Abfall von 2,8 Punkten (= 15 % weniger), in der Niedrigdosisgruppe sogar zu einem höheren Abfall (-3,4 Punkte) als in der Placebogruppe. Diese uneinheitliche Wirkung bestätigt typischerweise Zweifel an der Wirksamkeit. Ein anderer Wert (CDR-SB) zeigt das Bremsen der Verschlechterung zwar statistisch relevant (p = 0,012), aber wohlbemerkt keine erhofften Verbesserungen der Hirnleistungen, sondern ein geringes Bremsen der Verschlechterung: Placebo: +1,74, Low Dose: -0,25/14 %, High Dose: -0,4/23 %. Jedoch ist diese Skala eine Fremdbeurteilung der Pflegenden und bekanntermaßen anfällig für eine Fehlbeurteilung z. B. infolge von Hoffnungswünschen, zumal diese Personen über die erhöhte Dosis informiert werden mussten. Und es sei noch bemerkt: in der Hochdosisgruppe verstarben sechs Patienten (~ 1 %), in der Niedrigdosis-Gruppe kein einziger Patient.
Gemäß der neuen Alzheimer-Diagnosekriterien aus dem Jahr 2018 erlauben diese jetzt Studien in einer nachweislich frühen Phase ohne oder nur mit geringen Hirnleistungsstörungen. Dennoch ergeben sich Probleme. Z. B wissen wir, dass 30 bis40 % der Menschen zwar PET-Amyloid-positiv sein können, jedoch eine „gemischte Demenz“ und keine „reine“ Alzheimer-Krankheit haben, sodass andere Pathologien (vaskulär, TDP43, a-Synuclein, Lewy Body u. a.) ursächlich im Vordergrund für Hirnleistungsstörungen stehen können. Zudem ist wichtig zu wissen, dass 30 bis 40 % der Menschen über 75 Jahre zwar positive Biomarker haben, aber keine Hirnleistungsstörungen, jedoch werden 10bis 15 % Zeit ihres Lebens diese auch nicht entwickeln. Demgegenüber haben 85 % der über 75-jährigen mit Hirnleistungsstörungen zwar nachweisbare Alzheimer-Biomarker, wir wissen aber, dass im hohen Alter vor allem Gefäßprozesse den Krankheitsverlauf bestimmen und nicht mehr die Amyloidablagerungen, zumal das Fortschreiten mit den Tau- und nicht mit Amyloid-Ablagerungen im Krankheitsverlauf mit Hirnleistungsabbau korreliert.
Wem nun das neue Medikament geben? Diese Fragen sind m. E. erst weiter zu klären: Welcher Patient bekommt in welchem Stadium der Alzheimer-Krankheit, in welcher Altersgruppe und bei welchen auffälligen Biomarkern welche Dosis? Hiervon sind wir jedoch noch ein deutliches Stück entfernt. Alzheimer vorbeugen (s. mein Blog) ist die bessere Lösung!
Sehr optimistisch gestimmte Neurologen sagen, man könne darüber nachdenken, das Medikament bei geringen Beschwerden einzusetzen. Es wäre aber allenfalls zu erwarten, dass der Abbau gebremst wird, was nach zwei bis drei Jahren bemerkbar wäre. Dies müsste aber ausführlich mit Angehörigen und Patient diskutiert werden, zumal es gemäß Studien bei ca. 35 % der Patienten zu wesentlichen Nebenwirkungen kommen kann (ARIA = Amyloid Related Imaging Abnormalities = Hirnschwellung oder kleine Hirnblutungen). Als Voraussetzungen einer Therapie werden Hirnleistungstest, Amyloid-Nachweis (per PET) und Ausschluss von hoher Mikroblutunglast (per MRT) erwogen.